Melkonyan



Passagen aus dem Lepsiusbuch

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Passagen aus dem Streng vertraulichen Lepsiusbuch
B e r i c h t über Die Lage des Armenischen Volkes in der Türkei

Erzingjan (Erzincan) 

In Erzincan wurden über 2000 Armenier, ohne dass irgendeine Beschuldigung gegen sie erhoben worden wäre, arretiert. Bei Nacht wurden sie verhaftet, bei Nacht  aus  dem Gefängnis  geführt  und  in  der Nachbarschaft  der   Stadt getötet. Sodann wurde den Armeniern der Stadt, etwa 1500 Häusern, angekündigt, dass sie in einigen Tagen die Stadt zu verlassen hätten. Sie könnten ihre Sachen verkaufen, müssten aber vor dem Abzug die Schlüssel ihrer Häuser den Behörden abliefern. Am 7. Juni ging der erste Transport ab. Er bestand hauptsächlich aus Wohlhabenderen, die sich einen Wagen mieten konnten. Später wurde ein Telegramm vorgezeigt, dass sie ihr nächstes Reiseziel Kharput erreicht hätten. Am 8., 9. und 10. Juni verließen neue Scharen die Stadt, im ganzen 20 bis 25 000 Personen. Viele Kinder wurden von muhammedanischen Familien aufgenommen, später hieß es, auch diese müssten fort. Auch die Familien der im Lazarett Dienst tuenden Armenier mussten fort, sogar, trotz Protestes des deutschen Arztes Dr. Neukirch, eine typhuskranke Frau. Ein im Lazarett Dienst tuender Armenier sagte zu der deutschen Krankenschwester: „Nun bin ich 46 Jahre alt, und bin doch, trotzdem jedes Jahr Freilassungsgeld für mich gezahlt worden ist, eingezogen worden. Ich habe nie etwas gegen die Regierung getan, und jetzt nimmt man mir meine ganze Familie, meine 70jährige kummergebeugte Mutter, meine Frau und 5 Kinder; ich weiß nicht, wohin sie gehen.“ Er jammerte besonders um sein 11/2jähriges Töchterchen. „So ein schönes Kind hast du nie gesehen, es hatte Augen wie Teller so groß. Wenn ich könnte, wie eine Schlange wollte ich ihr auf dem Bauche nachkriechen“. Dabei weinte er wie ein Kind. Am anderen Tage kam derselbe Mann ganz ruhig und sagte: „ Jetzt weiß ich es, sie sind alle tot.“ Es war nur zu wahr.
Zu  Tausenden  zählten  die   Opfer  bei  diesem  Massaker  im Kemachtal, nur zwölf Stunden von der Garnisonstadt Erzingjan, dem Sitz eines Mutessarifs (Regierungspräsidenten) und des Kommandos des vierten Armeekorbs entfernt.
Was hier vom 10. bis 14. Juni geschah, ist mit Wissen und Willen der Behörden geschehen. Die deutschen Krankenschwestern erzählen:
„Die Wahrheit der Gerüchte wurde uns zuerst von unserer türkischen Köchin bestätigt. Die Frau erzählte unter Tränen, dass die Kurden die Frauen misshandelt und getötet und die Kinder in den Euphrat geworfen hätten. Zwei junge, auf dem amerikanischen Kolleg in Kharput ausgebildete Lehrerinnen zogen mit einem Zug von Deportierten durch die Kemachschlucht (Kemach-Boghasi), als sie am 10. Juni unter Kreuzfeuer genommen wurden. Vorn sperrten Kurden den Weg, hinten waren die Miliztruppen eines gewissen Talaat. In ihrem Schrecken warfen sie sich auf den Boden. Als das Schießen aufgehört hatte, gelang es ihnen und dem Bräutigam der einen, der sich als Frau verkleidet hatte, auf Umwegen nach Erzingjan (Erzincan) zurückzukommen. Ein türkischer Klassengefährte des jungen Mannes war ihnen behilflich. Kurden, die ihnen begegneten, gaben sie Geld. Als sie die Stadt erreicht hatten, wollte ein Gendarm die eine von ihnen, die Braut war, mit in sein Haus nehmen. Als der Bräutigam dagegen Einspruch erhob, wurde er von den Gendarmen erschossen. Die beiden jungen Mädchen wurden nun durch den türkischen Freund des Bräutigams in vornehme muhammedanische Häuser gebracht, wo man sie freundlich aufnahm, aber auch sofort aufforderte, den Islam anzunehmen. Sie ließen durch den Arzt Kafaffian die deutschen Krankenschwestern flehentlich bitten, sie mit nach Kharput zu nehmen. Die eine schrieb, wenn sie nur Gift hätten, würden sie es nehmen.“

Am folgenden Tage, dem 11. Juni, wurden reguläre Truppen von der 86. Kavalleriebrigade unter Führung ihrer Offiziere in die Kemachschlucht geschickt, um wie es hieß, die Kurden zu bestrafen. Diese türkischen Truppen haben, wie es die deutschen Krankenschwestern aus dem Munde türkischer Soldaten, die selbst dabei waren, gehört haben, alles, was sie noch von den Karawanen am Leben fanden, fast nur Frauen und Kinder, niedergemacht. ie türkischen Soldaten erzählten, wie sich die Frauen auf die Knie gestürzt und um Erbarmen gefleht hätten, und dann, als keine Hilfe mehr war, ihre Kinder selbst in den Fluss geworfen hätten. Ein junger türkischer Soldat sagte: „es war ein Jammer. Ich konnte nicht schießen. Ich tat nur so“. Andere rühmten sich gegenüber dem deutschen Apotheker, Herrn Gehlsen, ihrer Schandtaten. Vier Stunden dauerte die Schlächterei. Man hatte Ochsenwagen mitgebracht, um die Leichen in den Fluss zu schaffen und die Spuren des Geschehenen zu verwischen. Am Abend des 11. Juni kamen die Soldaten mit Raub beladen zurück. Nach der Metzelei wurde mehrere Tage in den Kornfeldern um Erzingjan Menschenjagd gehalten, um die vielen Flüchtlinge abzuschießen die sich darin versteckt hatten. In den nächsten Tagen kamen die ersten Züge von Deportierten aus Baiburt durch Erzingjan (Erzincan).
Über den Zustand und das Schicksal der Karawanen von deportierten, die  aus  der  Gegend von Baiburt und Erzerum durch Erzingjan (Erzincan) durchkamen, liegt noch ein weiteres Zeugnis der beiden deutschen Krankenschwestern aus Erzingjan (Erzincan) vor:
„Am Abend des 18. Juni gingen wir mit unserem Freunde, Herrn Apotheker Gehlsen, vor unserem Hause auf und ab. Da begegnete uns ein Gendarm, der uns erzählte, dass kaum zehn Minuten oberhalb des Hospitals, eine Schar Frauen und Kinder aus der Baiburtgegend übernachtete. Er hatte sie selber treiben helfen und erzählte in erschütternder Weise, wie es den Deportierten auf dem ganzen Wege ergangen sei. Kesse, Kesse sürüyorlar! (Schlachtend, schlachtend treibt man sie!) Jeden Tag, erzählte er, habe er zehn bis zwölf Männer getötet und in die Schluchten geworfen. Wenn die Kinder schrieen und nicht mitkommen konnten, habe man ihnen die Schädel eingeschlagen. Den Frauen hätte man alles abgenommen und sie bei jedem neuen Dorf aufs Neue geschändet. „Ich selber habe drei nackte Frauenleichen begraben lassen“, schloss er seinen Bericht, „Gott möge es mir zurechnen.“ Am folgenden Morgen in aller Frühe hörten wir, wie die Todgeweihten vorüber zogen. Wir und Herr Gehlsen schlossen uns ihnen an und begleiteten sie eine Stunde weit bis zur Stadt.
Der Jammer war unbeschreiblich. Es war eine große Schar. Nur zwei bis drei Männer, sonst alles Frauen und Kinder. Von den Frauen waren einige wahnsinnig geworden. Viele schrieen: „Rettet uns, wir wollen Moslems werden, oder Deutsche, oder was ihr wollt, nur rettet uns. Jetzt bringen sie uns nach Kemach und schneiden uns die Hälse ab.“ Dabei machten sie eine bezeichnende Gebärde. Andere trabten stumpf und teilnahmslos daher, mit ihren paar Habseligkeiten auf dem Rücken und ihren Kindern an der Hand. Andre wieder flehten uns an, ihre Kinder zu retten. Als wir uns der Stadt näherten, kamen viele Türken geritten und holten sich Kinder oder junge Mädchen. Am Eingang der Stadt, wo auch die deutschen Ärzte ihr Haus haben, machte die Schar einen Augenblick halt, ehe sie den Weg nach Kemach einschlug. Hier war es der reine Sklavenmarkt, nur dass nichts gezahlt wurde. Die Mütter schienen die Kinder gutwillig herzugeben, und Widerstand hätte nichts genützt.“ Als die beiden deutschen Rote-Kreuz-Schwestern am 21. Juni Erzingjan verließen, sahen sie unterwegs noch mehr von dem Schicksal der Deportierten.
„Auf dem Wege begegnete uns ein großer Zug von Ausgewiesenen, die erst kürzlich ihre Dörfer verlassen hatten und noch in guter Verfassung waren. Wir mussten lange halten, um sie vorüber zu lassen, und nie werden wir den Anblick vergessen. Einige wenige Männer, sonst nur Frauen und eine Menge Kinder. Viele davon mit hellem Haar und großen blauen Augen, die uns so toternst und mit solch unbewusster Hoheit anblickten, als wären sie schon Engel des Gerichts. In lautloser Stille zogen sie dahin, die Kleinen und die Großen, bis auf die uralte Frau, die man nur mit Mühe auf dem Esel halten konnte, alle, alle, um zusammengebunden vom hohen Felsen in die Fluten des Euphrat gestürzt zu werden, in jenem Tal des Fluches Kemach-Boghasi. Ein griechischer Kutscher erzählte uns, wie man das gemacht habe. Das Herz wurde einem zu Eis. Unser Gendarm berichtete, er habe gerade erst einen solchen Zug von 3000 Frauen und Kindern von Mamahatun (aus dem Terdjan-Gebiet zwischen Erzerum und Erzingjan) nach Kemach gebracht: „Hep gitdi bitdi!“ „Alle weg und hin!“, sagte er. Wir: „Wenn ihr sie töten wollt, warum tut ihr es nicht in ihren Dörfern? Warum sie erst so namenlos elend machen?“ – „Und wo sollten wir mit den Leichen hin, die würden ja stinken!“, war die Antwort.

Die Nacht verbrachten wir in Enderes in einem armenischen Haus. Die Männer waren schon abgeführt, während die Frauen noch unten hausten. Sie sollten am folgenden Tage abgeführt werden, wurde uns gesagt. Sie selbst aber wussten es nicht und konnten sich deshalb noch freuen, als wir den Kindern Süßigkeiten schenkten. An der Wand unseres Zimmers stand auf Türkisch geschrieben:
                „Unsere Wohnung ist die Bergeshöhe,
                Ein Zimmer brauchen wir nicht mehr.
                Wir haben den bitteren Todestrunk getrunken.
                Den Richter brauchen wir nicht mehr.“
Es war ein heller Mondscheinabend. Kurz nach dem Zubettgehen hörte ich Gewehrschüsse mit vorangehendem Kommando. Ich verstand, was es bedeutete, und schlief förmlich beruhigt ein, froh, dass diese Opfer wenigstens einen schnellen Tod gefunden hatten und jetzt vor Gott standen. Am Morgen wurde die Zivilbevölkerung aufgerufen, um auf Flüchtlinge Jagd zu machen. In allen Richtungen ritten Bewaffnete. Unter einem schattigen Baum saßen zwei Männer und teilten die Beute, der eine hielt gerade eine blaue Tuchhose in die Höhe. Die Leichen waren alle nackt ausgezogen, eine sahen wir ohne Kopf.
In dem nächsten griechischen Dorfe trafen wir einen wildaussehenden bewaffneten Mann, der uns erzählte, dass er dort postiert sei, um die Reisenden zu überwachen (d.h. die Armenier zu töten). Er haben deren schon viele getötet. Im Spaß fügte er hinzu, „einen von ihnen habe er zu ihrem Könige gemacht“. Unser Kutscher erklärte uns, es seien die 250 armenischen Wegearbeiter (Inscha’at-Taburi, Armierungssoldaten) gewesen, deren Richtplatz wir unterwegs gesehen hatten. Es lag noch viel geronnenes Blut da, aber die Leichen waren entfernt.
Am Nachmittag kamen wir in ein Tal, wo drei Haufen Wegearbeiter saßen, Moslem, Griechen und Armenier. Vor den Letzteren standen einige Offiziere. Wir fahren weiter einen Hügel hinan. Da zeigt der Kutscher in das Tal hinunter, wo etwa hundert Männer von der Landstraße abmarschierten und neben einer Senkung in einer Reihe aufgestellt wurden. Wir wussten nun, was geschehen würde. An einem anderen Ort wiederholte sich dasselbe Schauspiel. Im Missionshospital in Siwas sahen wir einen Mann, der einem solchen Massaker entronnen war.

Er war mit 95 anderen armenischen Wegearbeitern (die zum Militärdienst ausgehoben waren) in eine Reihe gestellt worden. Daraufhin hätten die zehn beigegebenen Gendarmen, soviel sie konnten, erschossen. Die übrigen wurden von andern Moslems mit Messern und Steinen getötet. Zehn waren geflohen. Der Mann selber hatte eine furchtbare Wunde im Nacken. Er war ohnmächtig geworden. Nachdem Erwachen gelang es ihm, den zwei Tage weiten Weg nach Siwas zu machen. Möge er ein Bild seines Volkes sein, dass es die ihm jetzt geschlagene tödliche Wunde verwinden könne!
Eine Nacht verbrachten wir im Regierungsgebäude zu Zara. Dort saß ein Gendarm vor der Tür und sang unausgesetzt: „Ermenileri hep kesdiler“ (Die Armenier alle abgeschlachtet). Am Telefon im Nebenraum unterhielt man sich über die noch Einzufangenden. Einmal übernachteten wir in einem Hause, wo die Frauen gerade die Nachricht vom Tode ihrer Männer erhalten hatten und die Nacht hindurch wehklagten. Der Gendarm sagte: „Dies Geschrei belästigt euch! Ich will hingehen und es ihnen verbieten.“ Glücklicherweise konnten wir ihn daran verhindern. Wir versuchten es, mit den Ärmsten zu reden, aber sie waren ganz außer sich: „Was ist das für ein König, der so etwas zulässt? Euer Kaiser muss doch helfen können. Warum tut er es nicht?“ usw. Andere waren von Todesangst gequält. „Alles, alles mögen sie uns nehmen bis aufs Hemd, nur das nackte Leben lassen.“ Das mussten wir immer wieder mit anhören und konnten nichts tun, als auf den hinweisen, der den Tod überwunden hat.“


 

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