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Artikel der Spiegel Dez. 2004

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"Hört auf, den Völkermord an den Armeniern zu leugnen" (DER SPIEGEL Dez. 2014)

Von Henryk M. Broder

Die einzige Bedingung, welche die EU den Türken für eine Aufnahme in die Gemeinschaft stellen sollte, ist die Anerkennung des Völkermordes an den Armeniern. Aber genau dies wird die EU nicht tun.

AFP

Türkei um 1915: Hinrichtung armenischer Männer in Alep

Berlin - Jetzt wird alles gut. Nächstes Jahr werden die Verhandlungen über einen EU-Beitritt der Türkei beginnen, sie werden nicht "ergebnisoffen", sondern "zielorientiert" sein, und dann wird es nur zehn bis zwanzig Jahre dauern, bis die Türken werden sagen können: "Wir sind auch Europäer!"

Alle sind zufrieden, vermutlich auch CDU-Chefin Angela Merkel, die bis zum Schluss wie ein Kerl gegen eine solche Regelung gekämpft und den Türken eine "privilegierte Partnerschaft" angeboten hatte, wohl wissend, dass es diese bereits gibt und dass man auf der Ebene von Staaten nicht das praktizieren kann, was bei Randgruppen möglich ist: eine Art von "Ehe light", mit einem "Vertrag" statt einem Trauschein. Denn Merkel wusste auch, dass sie verlieren würde, und da konnte sie sich risikolos als Verteidigerin von Werten inszenieren, die bei uns immer dann beschworen werden, wenn eine fremde Gefahr abgewehrt werden muss.

Sogar Altbundeskanzler Helmut Kohl, "ein Freund der Türkei" und Schwiegervater einer Türkin, schaltete sich in die Debatte ein und erklärte, er sei immer dafür eingetreten, "die Türkei so nah wie möglich unterhalb der Schwelle der Mitgliedschaft an die EU heranzuführen".

Das klang so, als würde ein Pfarrer Petting im Autokino statt richtigen Sex im Bett empfehlen, um eine kritische "Schwelle" nicht zu überschreiten.

Bisher war uns vieles an der Türkei recht

Was haben wir überhaupt im Laufe der Debatte für irre Argumente gehört. Die Türkei sei "so groß" und "so unterentwickelt" und so "ganz anders" als wir, sie passe nicht zu uns. Abgesehen davon, dass die Verhältnisse in Südanatolien sich nicht allzu sehr von den Verhältnissen in Ostpolen unterscheiden dürften, waren das alles recht späte Einsichten.

Bis jetzt sind wir sehr gerne in die Türkei gefahren - vier Personen, vier Wochen, vierhundert Euro, all inclusive - und haben schamlos das Lohngefälle zu unseren Gunsten ausgenutzt. Umgekehrt waren Türken als Müllmänner, Bauarbeiter und Reservisten auf dem Arbeitsmarkt herzlich willkommen, die man bei Bedarf einberufen und wieder nach Hause schicken konnte.

Auch dass die Türkei innerhalb der Nato die Ostflanke bewachte, war uns sehr recht. Und als in Istanbul Terror-Bomben losgingen, da haben wir Beileidstelegramme geschickt und waren erleichtert, dass die Türken etwas abbekamen, was eigentlich uns gegolten hatte. Wir sind für einen "Wandel durch Dialog" mit den Mullahs in Iran, haben größte Mühe, eine säkulare Ordnung bei uns zu etablieren, wissen aber nicht, ob wir der Türkei trauen können, der einzigen muslimischen Demokratie, die zwar nicht vollkommen ist, aber große Anstrengungen unternimmt, die Voraussetzungen für eine "Europäisierung" zu erfüllen.

Die Türken haben die Todesstrafe und die Folter abgeschafft, es gibt freie Wahlen, eine funktionierende Gewaltenteilung und Eliten, die auf Bildung, Erziehung und Mobilität setzen. Natürlich gibt es auch ein kulturelles Gefälle zwischen den Milieus in den Städten und auf dem Lande, Parallelgesellschaften sozusagen, aber die gibt es in Spanien, Portugal und Griechenland ebenso.

Türken fühlen sich verschaukelt

Die einzige Frage, auf die es ankommt, ist die, ob sich langfristig die Säkularisten in den Städten oder die Traditionalisten auf dem Lande durchsetzen werden. Und da könnte man in der Tat den Säkularisten helfen, aber nicht, indem man ihnen sagt: "Kinder, Ihr seid noch nicht so weit!"

Kein Wunder, dass sich die Türken verschaukelt fühlen und auf schräge Gedanken kommen. Könnte es sein, dass die christlichen Europäer unter sich bleiben wollen, wie früher die feine Gesellschaft, die ihren Dienstboten eine "privilegierte Partnerschaft" im Stall und am Küchentisch anbot?

Könnte es sein, dass der einzige gravierende Fehler, den die Türken nicht beheben können, um den Europäern entgegen zu kommen, der ist, dass sie Muslime sind?

Der Witz dabei ist, dass wir uns mit den Muslimen umso schwerer tun, je liberaler und säkularer sie sind. Die SPD organisiert ein Seminar mit der Hisbollah in Beirut, weil die Genossen gerne wissen möchten, wie die Radikalen ticken. Unser Außenminister legt am Grab des Terroristen Arafat einen Kranz nieder und würdigt dessen historische Rolle. Ein Nobelpreisträger möchte eine Kirche in eine Moschee verwandeln und ein grüner Fundi einen islamischen Feiertag in der Bundesrepublik einführen.

Nur gegenüber der Türkei, die keine Terroristen produziert und im Begriffe ist, einen säkularen Islam zu entwickeln, sind wir kritisch bis misstrauisch: Die meinen es nicht, die tun nur so!

Nein, wir sind es, die es nicht so meinen, wir tun nur so als ob.

Einzige Bedingung: Anerkennung des Genozids

Es gibt allerdings eine Bedingung für den Beitritt der Türkei in die EU, die wir nicht stellen wollen und die in den Debatten so gut wie nie genannt wird: die Anerkennung des türkischen Völkermords an den Armeniern.

Es war der zweite Völkermord des 20. Jahrhunderts, nach den Massakern der Deutschen an den Hereros in Deutsch-Südwest.

Wie viele Armenier bei der ethnischen Säuberung der Türkei von 1894 bis 1923 getötet wurden, weiß man bis heute nicht genau, die Schätzungen reichen von 600.000 bis 1,5 Millionen ermordeten Menschen. Aber nicht auf die Zahl kommt es an, sondern darauf, dass die Türken bis heute behaupten, es habe keinen Völkermord gegeben, die Armenier seien im "Zuge von Kriegshandlungen ums Leben" gekommen, wie der Pressesprecher der türkischen Botschaft behauptet, nachdem sie "mit den Russen und den Franzosen paktiert" hätten. Es habe damals "viele Massaker gegeben", auch an Türken, begangen von Armeniern. Das ist reine Geschichtsklitterung.

Schlimmer noch: Es ist die offizielle Position einer Regierung, die auch von der türkischen Öffentlichkeit übernommen wurde. Türken, die von der amtlichen Linie abweichen, wie der Grünen-EU-Parlamentarier Cem Özdemir, gelten als Nestbeschmutzer und Verräter.

Es habe keinen Massen- und keinen Völkermord gegeben. Alle Berichte über das Massaker vom 24./25. April 1915, bei dem die Führung der Armenier ausgerottet wurde, über die Todesmärsche in die Wüste, bei denen Hunderttausende von Menschen starben, sind Erfindungen und antitürkische Propaganda.

Sogar Franz Werfel, der mit seinem Roman "Die 40 Tage des Musa Dagh" den Armeniern ein Denkmal gesetzt hat, habe später bedauert, dass er auf "falsche Dokumente" reingefallen ist - sagt der Pressesprecher der türkischen Botschaft in Berlin. Und geht davon aus, dass sein Wort über jeden Zweifel erhaben ist.

Deswegen sollte die EU den Türken sagen: "Alles, worüber wir verhandeln, sind technische Details. Es gibt nur eine Forderung, die Ihr vor der Aufnahme der Verhandlungen erfüllen müsst. Hört mit dem Leugnen des Genozids an den Armeniern auf, bittet die Armenier um Vergebung, sagt: "Wir waren es!"

Aber genau das wird die EU nicht machen. Nicht weil sie es vermeiden möchte, die Türken zu kränken, sie in eine peinliche Situation zu bringen, sondern weil ihr ein paar Hunderttausend Armenier, die seit 80 Jahren tot sind, wurscht sind. So wie ihr ein paar Millionen tote Ruander, Sudanesen und Kongolesen wurscht sind. So wie ihr alles wurscht ist, was die gemeinsame Handelsbilanz und die Stabilität des Euro nicht tangiert.

 

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