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Das neue Leben von Mihran

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Ein Artikel aus der FAZ vom 24.12.2010

Das neue Leben von Mihran

In der Türkei leben Hunderttausende Armenier, als ob sie Muslime wären. Und manche, die sich für Muslime hielten, entdecken ihre christliche Familientradition. Einer von ihnen ist Mihran Prkich.

 

Von Karen Krüger

Mihran Prkich ist ein unauffälliger Mann. Man würde ihn nicht bemerken, eilte er auf der Straße an einem vorbei. Wenn er spricht, dann spricht er schnell. Berührt ihn etwas, dann überschlagen sich seine Worte. Will er etwas erklären, das in die Vergangenheit zurückreicht, dann suchen seine Hände sofort nach Papier zum Schreiben, und sei es auch nur eine Serviette aus Papier. Der Kugelschreiber fliegt über das Blatt, kritzelt Jahreszahlen, Pfeile, Kreise, unterstreicht, setzt Ausrufezeichen hinter Namen - ganz so, als fürchte er, die Wahrheit über sich und seine Familie wieder zu verlieren. Die türkische Geschichte hat schwarze Löcher in sie gerissen. Noch ist nicht jedes von ihnen wieder gefüllt. Schreibt er jedoch seinen Namen auf, ist sein Stift ganz ruhig, und der Blick seiner Augen hinter der großen eckigen Brille wird gelassen. Mihran ist ein armenischer Name. Als er ihn das erste Mal aussprach, meinte er damit einen Freund. Inzwischen aber ist der Name zum Angelpunkt seines neuen eigenen Lebens geworden. Mihran Prkich trägt ihn erst seit kurzem.

Mihran Prkich ist fünfzig Jahre alt. Fast genauso lang lautete sein Name Selahattin Gültekin. Tausende von Männern in der Türkei tragen diesen Namen. Doch für Mihran Prkich wurde er zu einer Last, die immer schwerer wog, je mehr er über die Geschichte seiner Familie herausfand. Mihran Prkich ist Armenier. Was das in der Türkei bedeutet, welches Schicksal Tausende von Armeniern dort während des Ersten Weltkriegs erlitten haben, wusste er jedoch lange nicht. Er konnte sich nicht vorstellen, dass seine Großeltern aus Angst zum Islam konvertiert waren. Er ahnte nicht, dass seine Eltern ihm den türkischen Namen Selahattin gegeben hatten, damit er nicht verfolgt würde, sondern als einer von vielen und nicht als einer von wenigen durchs Leben gehen kann.

Als Mihran Prkich all das erfuhr, zerbrach seine Welt. Seitdem in der Türkei über die Vorfälle des Jahres 1915 und deren Folgen gesprochen und geschrieben wird, geht es vielen Menschen in der Türkei so. Sie erkennen, dass ihre Wurzeln armenisch sind. Doch nicht alle haben den Mut, sich entgegen der vom türkischen Staat gewünschten Identität wieder als Armenier zu definieren.

Jahrzehntelang hatte Mihran Prkich den politischen Kampf der Kurden um gesellschaftliche Mitsprache unterstützt. Wie viele Male er dafür auf die Straße ging, kann er nicht mehr sagen. Und nun musste er erkennen, dass er selbst in einer Hülle aus Lügen steckte, die seine Familie geschaffen hatte, um im Klima des türkischen Nationalismus zu überleben. Auf der Suche nach seiner wahren Identität begann Mihran Prkich, die Gottesdienste einer armenischen Kirche in Istanbul zu besuchen - die christliche Religion war für ihn das augenfälligste Merkmal der Armenier. Vor sechs Wochen ließ er sich zusammen mit seinem Sohn taufen. Seitdem trägt er den neuen Namen.

Unter seinem Rollkragen zieht Mihran Prkich eine Kette hervor. Der Anhänger ist ein armenisches Kreuz. "Die Taufe war unendlich erleichternd für mich. Seitdem habe ich das Gefühl, wenigstens ein bisschen dazuzugehören. Ich fühle mich meinen Vorfahren wieder näher. Wenn ich früher die Hand nach ihnen ausstreckte, dann war da niemand. Jetzt aber schon", sagt er. Dass der neue Name und die Taufe nur die ersten Schritte auf seinem Weg zu einem Leben als Armenier sind, weiß Mihran Prkich. Wie es nun weitergehen soll, weiß er noch nicht. Er hat keine Ahnung, wie es sich anfühlt, Armenier zu sein. Die türkische Geschichte hat ihm etwas genommen, das sich vielleicht gar nicht zurückholen lässt. Mit einer schnellen Handbewegung wischt Miran Prkich diesen Gedanken fort.

Er sitzt in einem Büro der Zeitung "Agos". An den Wänden wachsen Regale mit Büchern auf Türkisch und Armenisch in die Höhe. Die kleine Zeitung im Istanbuler Stadtteil Nisantasi ist das Sprachrohr der Armenier in der Türkei. Die schmale schwarze Lederjacke, die ihn aussehen lässt, als stehe er noch immer bei jeder Demonstration der türkischen Linken mit einem Transparent bereit, behält er an. Er fröstelt, es ist kalt. Trotz des Schneefalls vor dem Fenster wogt unten auf der Straße der Abendverkehr. Mihran Prkich fühlt sich der Zeitung zutiefst verbunden. Einer ihrer Reporter war auf ihn aufmerksam geworden, "das war ein großes Glück". Der Journalist hatte gehört, dass es in Istanbul einen Türken namens Selahattin Gültekin gebe, der von sich behaupte, in Wirklichkeit Armenier zu sein. Das allein ist noch nicht ungewöhnlich in der Türkei - Schätzungen sprechen von bis zu mehreren hunderttausend Menschen, die als Muslime leben, tatsächlich aber Armenier sind.

Eine lebendige armenische Kultur aber existiert nur in den größeren Städten, wo man sich notfalls auch unauffällig bewegen kann - wenn man will, hat man dort keine Geschichte. Ungewöhnlich für die türkischen Verhältnisse war jedoch, dass dieser Selahattin offensichtlich nicht davor zurückschreckte, die Welt lautstark über seine armenische Identität zu informieren. Er schien fest entschlossen, sein Leben entsprechend zu ändern. Bei einem Kulturfestival in seiner Heimat Dersim, einer Region im Südosten der Türkei, in der vor allem alevitische Kurden leben, baute er einen Stand mit Büchern über den Völkermord an den Armeniern auf, hängte darüber ein Transparent mit dem Schriftzug "Verein der Armenier von Dersim" und verteilte Informationsbroschüren über den Genozid. Der Reporter von "Agos" schrieb daraufhin einen Artikel über den mutigen Mann. Seitdem steht Mihran Prkichs Telefon nicht mehr still. Hunderte von Menschen haben ihm gratuliert und Mut gemacht. Er bekommt Briefe, die er nicht lesen kann, da die Verfasser auf Armenisch schreiben. Manchmal bittet er einen Journalisten von "Agos", sie ihm zu übersetzen.

Mihran Prkich kommt oft und gern in die Redaktion. In den vergangenen Monaten musste er lernen, dass es Profiteure und Schmeichler auch in der armenischen Gemeinschaft gibt. Anfangs hatte er sie als etwas Höheres, Reineres idealisiert. Bei "Agos" traf er Menschen die ihm zuhörten und erklärten, welche armenischen Institutionen vorhanden sind und was er tun muss, um vom türkischen Gesetz als Armenier anerkannt zu werden. Welche Stellung er als solcher in nationalistischen türkischen Kreisen hat, muss man ihm nicht erzählen. Die Redaktion von "Agos" ist ein Hochsicherheitstrakt im Kleinen.

Kein Schild verrät, dass sich in dem mehrstöckigen Gebäude die Büros der türkisch-

armenischen Zeitung befinden. Besucher werden über eine Sprechanlage nach dem Grund ihres Kommens gefragt, erst dann öffnet sich die elektronisch gesicherte, kamerabewachte Tür. Sie gibt den Weg frei in eine verspiegelte Sicherheitsschleuse, in der man wieder warten muss, beobachtet von einem unsichtbaren Augenpaar. Erst wenn dieser Wächter sich vergewissert hat, dass keine Gefahr droht, darf man die Räume der Redaktion betreten. Bis vor drei Jahren gab es diese Vorkehrungen noch nicht. Dann aber wurde am 19. Januar 2007 Hrant Dink, der damalige Chefredakteur von "Agos", ermordet. Auf offener Straße, direkt vor dem Redaktionsgebäude.

Seit Jahren hatte Hrant Dink sich um eine Aussöhnung zwischen Türken und Armeniern bemüht. Behutsam thematisierte er den Genozid, ohne dabei das Wort jemals zu verwenden. "Ich habe den Ungläubigen erschossen", rief der junge Nationalist, der ihn dafür tötete, und rannte davon. Eine Welle von nie geahnter Solidarität erfasste das Land. Zu Tausenden gingen die Menschen auf die Straße. Es war der Tag, an dem Selahattin Gültekins Leben als Armenier begann. "Dabei weiß ich seit meiner Kindheit, dass ich Armenier bin", sagt Mihran Prkich und hebt verzweifelt die Hände. Er greift nach Stift und einem Stück Papier. Er beginnt, von damals zu erzählen.

Als man ihn als Kind in der Schule seines Heimatortes "Armenier" schimpfte, habe er zu Hause seine Mutter gefragt, was ein Armenier ist. "Du", sagte sie, "und wir und unsere Nachbarn auch." Mehr erklärte sie nicht. Manchmal, sagt Mihran, hätten die Eltern damals Armenisch miteinander gesprochen. Er hielt das für eine Geheimsprache, deren Erwachsene sich bedienen, wenn Kinder nichts verstehen sollen. Denn immer, wenn sein Vater und seine Mutter sich in ihr unterhielten, zogen sie sich in ein anderes Zimmer zurück.

Armenische Lieder, Geschichten oder Feiertage gab es in Mihrans Elternhaus nicht. Und auch keine alevitischen Gebete, obwohl die Familie wie fast alle Bewohner der Region offiziell als alevitisch galt. Dies sei das Einzige gewesen, was seine Familie von jenen in den türkischen Vierteln des Ortes unterschieden habe, ergänzt er. Später lernte Mihran in der Schule, dass Armenier Terroristen und Kollaborateure der Russen seien, die versucht hätten, das Osmanische Reich zu stürzen.

Gab es Streit mit den türkischen Nachbarn, dann schwiegen seine Eltern schnell. Manchmal informierten sie seinen Onkel, den Schneider des Orts, über den Vorfall. Auf wundersame Weise und ohne mit den Nachbarn zu sprechen, legte er die Angelegenheit bei - in seiner Werkstatt ließen der Polizeichef und der Governeur von Dersim ihre Anzüge und Uniformen schneidern.

Fragen stellte Mihran seinen Eltern deswegen nicht. Die Erklärungen, die er für die fehlende Religiosität seiner Eltern fand, waren politischer Natur. Sein Vater unterstützte die politische Linke und deren Kampf für die kurdische Bevölkerung. Mihran Prkichs Stift malt die Zahl "1938" auf das Blatt und unterstreicht sie dick: In jenem Jahr revoltierten die Kurden gegen die Unterdrückung durch den Staat. Der Aufstand endete in einem Gemetzel, und die Provinz wurde nach dem Sieg der türkischen Truppen in Tunceli umbenannt. Durchsetzen konnte sich der neue Name aber nicht; der rebellische Geist, der mit der Umbenennung auch sprachlich gebrochen werden sollte, existiert bis heute in Dersim.

Schon als Jugendlicher verbiss sich Mihran Prkich deshalb in die Politik. Das Angebot, den Wahlkampf seiner kurdischen Partei zu unterstützen, lehnte deren Vorsitzender dennoch ab: Jeder wisse, dass er Armenier sei, das koste nur Stimmen. Das Bild, das sich der junge Mihran Prkich damals von der türkischen Gesellschaft machte, verfestigte sich mehr und mehr: Türke zu sein hieß für ihn, politisch im Recht zu sein, denn laut der staatlichen Ideologie gab es im Land nur Türken. Kurde zu sein bedeutete dagegen, für eigene Rechte zu kämpfen, und sei es bis zum Tod. Aber Armenier zu sein hieß Stille.

Das verschwundene Christentum war für ihn selbstverständlicher Teil der Landschaft: die Grabsteine mit armenischer Schrift auf den Friedhöfen, die Ruinen armenischer und griechisch-orthodoxer Kirchen in den Bergen und Wäldern. Niemand bemühte sich darum, diese steinernen Zeugnisse wieder aufzubauen. Als Mihran Prkich mit achtzehn Jahren nach Istanbul kam, sah er die versteckt im Häusermeer liegenden armenischen Kirchen. Er blieb stehen und bewunderte ihre Architektur. Er fühlte nichts.

Dass es in Istanbul "offizielle Armenier" gibt, wie Mihran Prkich jene Armenier nennt, die ihre Kultur offen leben, die Kinder in armenische Schulen schicken und sich in armenisches Krankenhäusern pflegen lassen, überraschte ihn sehr. Auch hörte er das erste Mal von dem vorsichtigen Engagement Hrant Dinks. Aufgewachsen mit der offiziellen türkischen Geschichtsschreibung, wusste Mihran Prkich nicht, dass die Massaker an den Armeniern während des Ersten Weltkriegs die Dimension eines Völkermordes hatten. Dass Hrant Dink auch seine eigene Familie meinte, wenn er vom Schicksal der Armenier sprach, begriff er erst nach dessen Tod. Aufgeschreckt durch die Verzweiflung nicht nur in der armenischen Gemeinde von Istanbul, lieh Mihran Prkich sich nach dem Attentat Bücher aus und begann zu lesen. Er war entsetzt. Der Völkermord hatte seinerzeit auch Dersim erreicht, auch dort waren Armenier gefoltert und massenhaft getötet worden, hatte man Mädchen verschleppt und sie mit Muslimen zwangsverheiratet.

Dass nicht alle getötet wurden, ist den kurdischen Familien zu verdanken, die sich schützend vor ihre armenischen Nachbarn stellten. Nachdem sich die Lage wieder beruhigt hatte, machten die überlebenden religiösen Oberhäupter der Armenier ihnen aus Angst, womöglich bald wieder der Verfolgung ausgesetzt zu sein, ein Angebot: Wenn die Aleviten weiterhin die Armenier und deren kulturelles Erbe schützten, würde man geschlossen zum alevitischen Glauben übertreten. So kam es. Fortan galten die Armenier von Dersim offiziell als Aleviten. Auch Mihran Prkichs Großeltern fügten sich in den Entschluss.

Dann aber kam die blutige Niederschlagung des kurdischen Aufstandes im Jahr 1938, und das Klima veränderte sich abermals zuungunsten der Armenier. Schnell machte das Gerücht die Runde, der türkische Staat habe nur deshalb solche Härte gezeigt, weil die Bewohner der Region die Überlebenden des Genozids beschützten. In den meisten Familien, die nun selbst Tote zu beklagen hatten, war es deshalb mit der Toleranz vorbei: "Es ging nur noch um den gegenseitigen Nutzen. Feierte eine kurdische Familie ein Fest, dann lieferten die Armenier das Essen und die Getränke und kleideten mitunter die ganze Festgesellschaft ein. Wer konnte, der ging aus Dersim weg und begann woanders ein neues Leben."

 

Die Bilder, die beim Lesen über den Völkermord und dessen Folgejahre in seinem Kopf entstanden sind, lassen ihn nicht mehr los, sagt Mihran Prkich. Gleichzeitig füge sich für ihn vieles, was er zuvor nie verstanden habe, wie ein Puzzle zusammen. Die Teile hatte er die ganze Zeit vor Augen, ohne ihren Zusammenhang zu sehen: die unter ärmlichsten Bedingungen lebenden Armenier in den Dörfern Dersims, von denen es heißt, sie seien einst wohlhabend gewesen; die Grabsteine, auf denen für ein und denselben Toten ein türkischer und ein armenischer Name steht; die vielen zerstörten Kirchen, in denen man Ställe für Schafe und Ziegen errichtet hat; der Onkel, der beim Hosenkürzen den Polizeichef und den Gouverneur umschmeicheln musste, damit die Familie auch weiterhin in Frieden leben konnte; die Tante, von der die Familie nichts mehr wissen wollte, nachdem sie in den sechziger Jahren mit gepackten Koffern nach Istanbul gegangen war - inzwischen weiß Mihran Prkich, dass sie sich dort taufen ließ und ihren Namen änderte.

Die Zurückgebliebenen in Dersim hatten Angst, dass sie dafür bezahlen müssten, wenn der Rest des Ortes davon erführe. Vor allem aber, sagt Mihran Prkich, müsse er immer wieder an die Frauen denken, die nur überlebten, weil man sie in Harems entführte oder mit einem Muslim, dem Mörder der eigenen Familie gar, verheiratete. Er nennt eine Reihe von Namen armenischer Mütterchen, die in den Nachbardörfern in muslimischen Haushalten leben. "Wie kann man den Alltag mit einem solchen Menschen ertragen? Was ist mit den Kindern, die aus diesen Ehen entstanden sind? Sie sind ein Resultat von Angst und Hass. Das alles kann ich nicht akzeptieren."

Manchmal störe ihn die Zurückhaltung, mit der die Istanbuler Armenier der staatlichen Leugnung des Genozids und ihrer Diskriminierung begegnen, sagt Mihran Prkich. Plötzlich klingt seine Stimme, als stehe er wieder auf einem Wahlkampfpodium: "Wie konnte es passieren, dass Hrant Dink bedroht, vors Gericht geschleppt und dort ausgebuht wurde und kein Armenier ihm dabei zur Seite stand? So etwas darf nie wieder passieren! Wie kann es sein, dass ein Innenminister sagt, alle Kurden wären armenische Bastarde, und die armenische Gemeinde schweigt?"

Im Einwohnerverzeichnis seines Heimatortes fand Mihran schließlich die Wurzeln seiner Familie. Dort war alles dokumentiert, schwarz auf weiß. Sein Großvater hieß Bouz, das ist der armenische Name für Paul. Offensichtlich hatte er zwei Brüder, Havut und Sarkis, deren Grabsteine Mihran Prkich auf dem Friedhof wiederfand. Auch die Namen zweier Schwestern tauchen in den Papieren auf, doch niemand weiß etwas über ihren Verbleib. Er machte sich eine Kopie der Dokumente und schickte sie an das armenische Patriarchat in Istanbul. "Meine Wurzeln sind armenisch, also möchte ich auch christlich sein", schrieb er. Der Patriarch bestätigte den Stammbaum. Der Weg für den Gang zu den türkischen Behörden und für die Änderung seines Namens in den Ausweispapieren war frei. Erst danach konnte er sich mit seinem Wunsch, getauft zu werden, wieder an die armenische Kirche wenden. Im Internet fand er heraus, dass andere sich ebenfalls für seine armenischen Wurzeln interessieren und wesentlich schneller bei der Wahrheitsfindung gewesen sind. Auf einer Seite, auf der türkische Nationalisten Menschen, die in kurdischen Gebieten leben, als Armenier denunzieren, stieß er auf den Namen seines Großvaters und auf seinen eignen.

Seine Kirchgänge helfen ihm, die Wunden in seinem Kopf zu heilen, sagt Mihran Prkich. Von heute auf morgen an Gott glauben kann er natürlich nicht. Er hört stundenlang zu, obwohl er die Worte des armenischen Priesters nicht versteht. Nur die Botschaft an die Gemeinde, die am Ende des Gottesdienstes verlesen wird, ist neuerdings auf Türkisch - so versucht man, die immer zahlreicheren Neuzugänge zu integrieren. Oft sei darin ein Gedanke, den er mit nach Hause nehme, sagt Mihran Prkich. Etwas, über das er niemals nachgedacht habe, als sein Zuhause noch die politische Linke war.

Der Verein, mit dem er im Sommer in Dersim auf sich aufmerksam machte, ist inzwischen offiziell registriert. Ein Vereinsleben, wie Mihran sich das wünscht, hat er noch nicht, aber schon sechshundert Mitglieder. Sein Ziel sei, auch andere Armenier zur Taufe zu ermutigen. Denn nur getauft können sie am Leben der armenischen Gemeinde teilnehmen und von deren Institutionen in Städten wie Istanbul profitieren. Mihran Prkich strebt eine Umverteilung an, auch Hrant Dink habe das gewollt. Außerdem träumt er davon, die Kirchen in Dersim zu restaurieren und dort Armenischunterricht anzubieten. Er will die Armenier aus ihrer Stille holen. Jetzt, da sich in der Türkei so viel verändere, sei die Zeit dafür reif. An seine Offenheit und provozierende Art muss sich die armenische Gemeinde von Istanbul wohl erst gewöhnen. Vielleicht erkennt sie aber auch die Chance, die darin liegt. Angst habe er nicht, sagt Mihran Prkich.

Nahe beim Istanbuler Taksim-Platz hat er ein Büro gemietet. Wer zum Verein will, steigt einfach die Treppe ins erste Stockwerk hinauf. Dort hängt an einer der Türen ein glänzendes Messingschild, auf dem "Verein der Armenier aus Dersim" steht. Im Inneren erwartet den Besucher das typisch türkische Büroambiente: ein riesiger dunkler Schreibtisch, davor vier unbequeme Sessel und ein Tischchen. Die Wände sind nackt. Über dem Schreibtisch, dort, wo im Nachbarbüro eines Buchhalters ein Bild des streng dreinblickenden Staatsgründers Mustafa Kemal hängt, lächelt in Mihran Prkichs Reich ein Mann. Es ist ein Foto von Hrant Dink.

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