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Die Erinnerung an die Armenier in der Osttürkei

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Die Erinnerung an die Armenier in der Osttürkei

05.01.2010, von susanneguestenMedien

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    Vereinsvorsitzender Ikram Kali vor den
    Ruinen des alten Van (Foto: Susanne Güsten)
    An die Massaker an den Armeniern im untergehenden Osmanischen Reich denkt die Welt, wenn es um die ostanatolischen Ereignisse von 1915 geht. In Ostanatolien ist das anders. Dort leben heute keine Armenier mehr. Und die moslemische Bevölkerung erinnert sich vor allem an das eigene Leid, das ihr von Armeniern zugefügt wurde.
    Susanne Güsten begab sich in der osttürkischen Stadt Van auf Spurensuche.

Matschige Straßen und windschiefe Flachbauten – die osttürkische Stadt Van wirkt eher wie eine hastig zusammengenagelte Kulisse für einen Westernfilm, aber nicht wie eine dreitausend Jahre alte Kulturstadt. Der Eindruck trügt nicht: Erst vor 90 Jahren wurden in Van die ersten Häuser und Straßen gebaut.

Hier am Ufer des Van-Sees, drei Kilometer vom modernen Van entfernt, lag die Stadt früher, genauer: bis zum Jahr 1915. Viel ist nicht übrig – von mancher Stadt der Antike ist heute noch mehr zu sehen als vom alten Van, wie es noch vor hundert Jahren war. Ein Zaun ist um die Ruine gezogen – Ikram Kali schlüpft durch ein loses Gatter hindurch:

Sehen sie, hier ist die damalige Moschee, das da sind Überreste einer Kirche. Wieviele Meter werden das sein dazwischen, höchstens 20 Meter sind das doch. So eng war unser Verhältnis früher, so nah standen selbst unsere Gotteshäuser beieinander. Hier war ein armenisches Viertel, dort waren moslemische Viertel. So war das alte Van.

Ikram Kali ist Vorsitzender eines örtlichen Geschichtsvereins in Van, der sich vor allem mit den Ereignissen des Jahres 1915 beschäftigt – dem Jahr, in dem das alte Van unterging. Das Jahr 1915, das steht im Bewusstsein vieler im Westen für den Beginn der osmanischen Massaker an den Armeniern von Anatolien. Für Ikram Kali und viele Menschen in Van steht es für die Vorgeschichte dieser Massaker: für die armenischen Angriffe auf moslemische Anatolier im Osten von Kleinasien. 

Im Schein einer Gaslampe versammelt sich der Geschichtsverein von Van im Haus des pensionierten Lehrers Fevzi Levendoglu. Die Gaslampe ist notwendig, weil es mal wieder keinen Strom gibt in Van. Die Einwohner sind daran gewöhnt: Obwohl auf den Straßen draußen die Hand nicht vor Augen zu sehen ist, hat sich fast ein Dutzend Männer in Levendoglus guter Stube versammelt. Einige von 


Der pensionierte Lehrer Fevzi Levendoglu
in seinem Wohnzimmer in Van (Foto: Susanne Güsten)

ihnen sind über 70 Jahre oder – wie Levendoglu selbst – gar mehr als 80 Jahre alt: Der Verein will ihre Erinnerungen festhalten, bevor es zu spät ist. Erinnerungen wie die des 78jähringen Timurlenk Bozkurt:

Ich habe mal meine Mutter gefragt, warum ich keine Onkel habe. Und meine Mutter sagte, wie, keine Onkel? Du hattest drei Onkel, aber 1915 sind die Armenier in unser Dorf gekommen. Einer der Brüder ging zu ihnen hinaus an den Dorfrand und fragte sie, was sie wollten – und sie haben ihn getötet. Dann gingen die beiden anderen Brüder hinaus, und sie haben auch sie getötet. Dann kamen sie ins Dorf hinein, in die Häuser. 17 Kinder haben sie umgebracht, Jungen und Mädchen. Ein sechs Monate altes Baby rissen sie aus den Armen der Mutter, hieben es in Stücke und warfen es Stück für Stück in den brennenden Tandir, den Brotofen.

Warme Milch mit Gewürzen reicht die Frau des Lehrers zur Beruhigung, dann ergreift der Ersatzteilhändler Saadetin Cabukar das Wort:

Ich bin der Enkel von Überlebenden des Massakers von Molakasim. Meine Mutter und meine Großmutter haben mir davon erzählt, sie sind beide über 80 geworden. Sie lebten in unserem Dorf Molakasim in Freundschaft mit dem armenischen  Nachbardorf Alaköy, so hat meine Mutter das immer erzählt. Als die Russen auf Van vorrückten, sind manche Leute aus unserem Dorf geflohen. Aber unsere Familie und viele andere im Dorf, die haben den Armeniern vertraut und sind nicht geflohen. Die Armenier aus Alaköy haben nämlich gesagt: Geht nicht fort, wir schützen euch vor den Russen und vor den armenischen Banden. Aber noch bevor die Russen kamen, haben unsere Armenier aus Alaköy, unsere eigenen Nachbarn, unser Dorf umstellt, zusammen mit den armenischen Banden. Unsere Dörfler haben Brot und Salz an den Dorfrand gebracht, das ist den Armeniern ebenso heilig wie uns, und sie haben den Armeniern gesagt: Wir sind doch Freunde, ihr habt uns doch euer Wort gegeben. Aber die sagten: Nein, mit der Freundschaft ist es jetzt vorbei. Eines der Felder am Dorfrand von Molakasim wird noch heute das Feld des Flehens genannt, erzählt Cabukar, denn auf diesem Feld flehten die zusammengetriebenen türkischen Bewohner auf Knien vergeblich um ihr Leben.  

Von der Grausamkeit der armenischen Partisanen erzählt auch der 81-jährige Alaattin Sen. Seine älteren Brüder mussten als Kleinkinder mitansehen, wie ihr Großvater im eigenen Haus von armenischen Partisanen erschossen wurde. Noch schlimmer erging es Sens Cousin, einem jungen Soldaten namens Ibrahim, der im Heimaturlaub seine Eltern besuchte:

Abends klopfte es an der Türe. Die Eltern dachten sofort an die Armenier, die wüteten in letzter Zeit schon schlimm in der Stadt. Schnell versteckten sie den Sohn unter dem Dach, dann öffneten sie – vor der Türe standen drei bewaffnete Armenier, die wollten den Sohn. Sie fesselten die Eltern und zerrten Ibrahim aus dem Versteck. Und diese 
Gottlosen waren so grausam, dass sie ihn nicht

 
Alaatin Sen erzählt von der Grausamkeit
der armenischen Partisanen (Foto: Susanne Güsten)
einmal erschossen haben. Mit einer Säge haben sie ihm vor den Augen der Eltern den Kopf abgeschnitten (schluchzt) und den Eltern den Kopf vor die Füße geworfen: Da habt ihr Euren Kadetten. (schluchzt) Meine Tante ist noch sehr alt geworden, sie hat uns das selbst erzählt, aber bis ans Ende ihrer Tage hat sie am ganzen Körper gezittert.

Betroffenes Schweigen in der Runde um die Gaslampe. Schließlich ergreift der alte Lehrer Levendoglu die Initiative und stimmt ein Lied an:

Das Lied von Ali Pascha singt der Lehrer, eine hundert Jahre alte Volksweise über den osmanischen Gouverneur von Van, der von armenischen Partisanen ermordet wurde.

Langsam stimmen auch die anderen Männer um die Gaslampe in das alte Volkslied ein.

Jeder in Van kennt dieses Lied, sagen die Männer – so wie fast jeder in Van auch ähnliche Geschichten zu erzählen hat aus dem Jahr 1915. Geschichten, die der Verein sammelt, aufzeichnet und bewahrt. Als verzerrt, einseitig und ungerecht empfinden die Männer um die Gaslampe die Version der Ereignisse von 1915, die in Völkermords-Resolutionen von Parlamenten in Frankreich, der Schweiz oder Amerika zum Ausdruck kommt. Die osmanische Umsiedlung der Armenier sei doch kein Völkermord gewesen, sagt Saadetin Cabukar:

Mein Vater hat mir die Umsiedlung der Armenier immer so erklärt: Wenn die Armenier hier geblieben wären, nach dem, was sie uns angetan haben, dann hätten die Unsrigen es ihnen später heimgezahlt, es hätte Bürgerkrieg gegeben. Es war für alle besser, dass sie gegangen sind. Meine Mutter hat mir erzählt, dass auch viele Armenier damals sagten, es ist besser, wenn wir gehen.

Auf die armenische Diaspora im Westen sind die Männer wegen der Völkermord-These nicht gut zu sprechen. Anders sei es mit den türkischen Armeniern, sagt der junge Lehrer Nedim Ilikci:

Als Einwohner von Van tut es mir leid, dass die Armenier nicht mehr hier sind. Mit den Armeniern ist unser Handwerk gegangen, unser Handel, unser Wohlstand und viel von unserer Kultur. Wir waren doch Jahrhunderte zusammen, unsere Lieder sind die gleichen, unsere Speisen sind die gleichen. Auch wenn wir verschiedene Glaubensrichtungen hatten, wir hatten doch dieselbe Lebensweise, wir waren uns sehr nah.


 

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